Spuck es aus

Harmoniesucht. 
Schon mal davon gehört. 
Bitte jetzt kein Augen-Verdrehen. 


Wirklich. Das ist kein Witz.
Gibt’s denn sowas. 

Total unbekannt oder dämmert da etwas bei dir?

Du kannst jetzt den Artikel wegdrücken und dich einem enspannteren Thema zuwenden. 
Oder den Artikel als eine Art Horizonterweiterung ansehen. 
Das überlasse ich dir. Auf jeden Fall verspreche ich das es dir beim Lesen nicht langweilig wird. Und wenn es dich dann trotzdem anöden sollte, und du von mir enttäuscht bist, haben wir dann halt keine Harmonie mehr. 

Dann denkst du dir deine Sache, steckst es weg, und das nächste Mal wenn du mich siehst, lächelst du mich an und tust so, als sei nichts gewesen. Wir lächeln beide, winken und haben Harmonie. Halleluja. 

Wie befreiend, dass man das heutzutags so anonym lösen kann und man mich auch nicht mehr anzuklicken braucht. 

Aber nun zurück zum Thema. 
Harmoniesucht. 

Also ich spreche jetzt nicht von einer berauschenden Sucht die dich in andere Sphären bringt. 

Es geht nicht um das Konsumieren von Koks, Hasch oder anderen Substanzen, wobei davon wegzukommen auch nicht falsch ist. 
Auch nicht süchtig nach Schokolade, was meiner Meinung nach nicht unter der Kategorie "Süchte" laufen sollte, sondern eher in die Kategorie "Therapie" fällt. 
Auch nicht süchtig nach Gamen, Sport, Sex oder anderem wonach man sich den ganzen Tag sehnen und ausrichten kann. 

Nein. Süchtig nach Harmonie und Frieden. 

Soweit ist dabei ja nichts Verwerfliches festzustellen.
Das sind doch die Menschen die immer lächeln,  umgeben sind von einer Wolke der Glückseligkeit, die in rosaroter Kleidung herumlaufen, überall Komplimente verteilen, anspruchslos durchs Leben latschen und allezeit ihre Hilfe anbieten?
Friede. Freude. Eierkuchen. 
Das klingt doch lieb und nett.
Die tun ja niemandem etwas zuleide. Diese Menschen sollte man sich zum Vorbild nehmen.
Oder etwa doch nicht. 

Es gibt Menschen die sind süchtig es allen und jedem immer Recht machen zu wollen und versuchen dabei keinem auch nur in kleinster Weise auf den Schlips zu stehen.
Die Halten mit ihrer Meinung dauernd hinter dem Busch und nuscheln immer etwas rum wenn ein Statement gefragt ist. 
Dabei geht es um die freundlichen Menschen, die geliebt werden möchten. Um die Leute die sich lieber bereits zum vorherein entschuldigen, falls dem anderen etwas Negatives auffallen KÖNNTE.
Die Rücksicht nehmen und sich anpassen.
Wie ätzend. Wie langweilig. Aber wisst ihr was.

Ich gehöre auch zu dieser Sorte Menschen. Nicht das ich jetzt dauernd in rosaroter Kleidung rumlaufe. Aber es hat was. Ich finde mich darin wieder. Nicht immer gleich ausgeprägt, aber ich bin süchtig. Süchtig nach Harmonie und Frieden. Und ich gebe oft nach, weil ich nicht unangenehm auffallen möchte oder Anstoss erregen will. Weil mir gute Beziehungen wichtig sind.
Ich würde manchmal so gerne meine Kleider wechseln, aus der Haut fahren, mich umprogrammieren lassen. Funktioniert aber nicht. 



Es ist keinesfalls ein ausschließliches Frauending, aber ich kenne viele Leidensgenossinnen.
Vielleicht auch deshalb, weil wir eher zusammen auf die Toilette gehen, wobei ich nicht sicher bin ob da direkt einen Zusammenhang besteht. Auf jeden Fall wissen wir voneinader… den ewigen Ja- Sagerinnen.

Da tuschelt man mit einer anderen Nachbarin über die dritte Nachbarin, weil man zu wenig Mut hat, zu sagen, dass man nicht einverstanden ist, wenn am falschen Ort parkiert wird.

Da hört man sich Geschnorre über Dritte an, weil man nicht den Mut hatte, Partei zu ergreifen.

Da schluckt man kommentarlos Anweisungen vom Mitarbeiter, weil man nur herumdruckste.

Da gibt man in den Familienferien immer der Mehrheit nach, weil man es miteinander nicht verspielen will.

Ja, ja. Wir sind viele. Viele die in dieser Spitalabteilung in Behandlung sind.

Für mich ist da jedenfalls ein Platz reserviert, in der Abteilung der Gefühlskranken. Da gibt es ein Bett da steht bereits mein Name vorne am Bett. Da leg ich mich hin wenn ich es wieder mal allen Recht machen will und dabei aus „könnte, wäre, möchte“ nicht mehr rauskomme. Es könnte ja sein, dass ich jemanden dabei übergehe oder vor den Kopf stosse.
Das einem das noch zusehends Kopfschmerzen bereitet, das Umfeld aus einem nicht schlau wird und man Raubbau an den  eigenen Bedürfnisse begeht, versteht sich von selbst.

Dabei gäbe es unzählige Momente in meinem Leben wo genau das gefragt wäre.
Stand einnehmen. Haltung wahren. Meinung abgeben. Wahrheit aussprechen.
Sich selber ernst nehmen.

So kam es auch zu dieser lustigen Episode auf dem Campingplatz.

Schmutzige Töpfe und Geschirr haben sich in den letzten Stunden vom Kochen und Essen angesammelt und türmen sich bedrohlich im kleinen gelben zusammenfaltbaren Abwaschbecken auf. Also mache ich mich mit dem Velo auf, das Geschirr balancierend in der einen und mit der anderen steuernd, Richtung Abwaschstelle.
Heil angekommen mit allem Plunder mache ich mich emsig an den Abwasch. Es herrscht reges Treiben um mich. Links neben mir höre ich holländisches Geplapper und rechts daneben berndeutsches Diskutieren über das Wetter, während Bürsteli geschwungen und Abtrocknungstüechli gerieben werden. Langsam lichtet sich das Geschirr bei den Leuten um mich herum und die Holländer und Berner machen sich von dannen, während ich mich noch mit einem stark eingebrannter Platte abmühe. Da stehe ich also und kratze das Schwarzgebrannte mit brachialer Kraft vom Topf und höre hinter mir plötzlich zwei Jugendliche Walliser daher schlurfen.

Güetätagwohl.
Jöh. Zwei Einheimische, denke ich und muss lächeln. Die haben bei mir von Anbeginn Bonuspunkte mit ihrem Dialekt. Ach. Ich blicke mich freundlich lächelnd um. Einer der beiden ist oben ohne, sehe ich, kommt wohl gerade aus der Dusche. Der andere hat eine Bierflasche in der Hand.
 Schaue sie freundlich an, doch sie nehmen von mir kaum Notiz. Ich bin vielleicht auch nicht mehr ganz in ihrem Altersegment, denke ich etwas resigniert und blicke an mir und den Jeans in den Turnschuhen herunter.
Hallo.
Der Frischgeduschte nimmt seine Zahnbürste hervor und beginnt neben mir, wo eben noch die Holländer gestanden sind, sich genüsslich die Zähne zu putzen. Irritiert schaue ich ihn an. Ich glotze ihn mit meinem Stechblick etwas mehr von der Seite an, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass es vielleicht nicht ganz passend ist. Blicke scharf auf das Plakat das vor mir hängt mit der Aufschrift: NUR GESCHIRR und blicke wieder scharf nach links. Er putzt in aller Seelenruhe die Zähne. Zwei Meter weiter gäbe es ein Waschbecken aber nein, der muss jetzt hier wirklich die Zähne putzen. Ich sehe schon den frischen Salat, den die nächste Person in dem Waschbecken waschen möchte. Ich werde auf jeden Fall nicht mehr hier meinen Salat waschen, denke ich und schrubbe stumm weiter an meinen Topf.
Langsam frage ich mich ob ich etwas sagen soll oder nicht.
CHHHHHTTT. Spuck.
Er spuckt die ganze Schaumspucke in das Waschbecken neben mir. Hoppla, und verdrehe die Augen. Aber du darf das doch nicht so eng sehen, sage ich zu mir selber, wir sind ja auf dem Campingplatz, und wasche weiter an meinem Topf und halte den Mund.
„Jo, hüerä güeti Stimmug hier uf däm Campingplatz“, sagt der eine zum anderen. „Jo, das han i au gedeicht.“  Meine Stimmung meint er damit ganz bestimmt nicht, und halte aber weiterhin meine Klappe zu der ganzen Spuckaffäre.
Die Zahnbürste wandert zurück in das Nessessär. Da steht der Junge der das Abwaschbecken mit dem Kuhwaschtrog verwechselt hat hinter mich, und grabt einen Moment in seinem Nessesaire.
Da sind ungefähr zu seinem Rücken zu meinem 70 Zentimeter. Ich versuche mich auf den Topf zu konzentrieren. Was macht er denn jetzt?
Da plötzlich. ZZZZSSSCCCHHHHHH….. sprüh, sprüh.
Ich weiss nicht mehr ob ich es zuerst gerochen oder gespürt habe.
Der Nebel. Der Duft. Die Zitrone. Oder ob ich durch die Brille nicht mehr klar sah.
Da sprüht er doch tatsächlich seine Achseln mit Deo voll und hüllt mich dahinter in einen Nebel von Männerdeo. Genervt drehe ich mich um, mache meinen Mund und will mit einem: geht’s noch auf der Zunge, den Tarif durchgeben, doch die zwei sind schon um die Ecke. Ich schliesse den Mund wieder wie ein Fisch.
Ich blicke auf mein abgewaschenes Zeug. Das kann ich gleich nochmals waschen und mich nachher in die Dusche stecken.



Solche Situationen führen mir vor Augen, wie ich immer wieder gut dastehen will, des Friedens zuliebe. Ich passe mich an dem Frieden zuliebe. Doch wirklicher Friede ist das nicht. Wo ich meine Gefühle und Bedürfnisse ins Abseits stelle, drückt der Unfriede irgendwann durch und kommt als geballte Ladung zum Ausbruch. Wir dürfen lernen, uns zu wehren, zu uns zu stehen und damit für uns selbst einzustehen. Damit werden wir glaubhaft und fassbar. Damit kann man umgehen. Mit beiseite geschobenen Gefühlen nicht.


Teile dich mit. Aber mit Köpfchen.

Zum sympathischen Abwaschbeckenspucker hätte ich sagen können:
-        Machst du das Zuhause in deiner Küche auch? Wäscht du den Salat auch im Badezimmer?
-        Ich rieche Zitrone, oh, gib mir gleich nochmals einen Spritzer und hätte meine Achsel heben können.
-        Aber gäll, sauber putzen. Sag ich jeweils meinen Kindern.
-        Wow. Welcher Duft ist das? Axe? Wo hast du den gekauft?

Sag es. Aber sag es mit Humor.


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