Im Lockout

Wir sind alle Zuhause.
Kinder.
Mann.
Zwei Mäuse und ich. Doch ein ICH* gibt es momentan nicht.

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Ich bin Mänövriererin, immer in der Schaltzentrale, dauernd am Gleichgewicht halten, dass alles reibungslos abläuft.
Kinder. Haushalt. Job.
Meine Bedürfnisse sind schon lange "lockout".

Die Sicht ist also eingeschränkt.
Im linken Bullauge sehe ich viele unzählige Fische schwimmen. 
Es ist schön anzublicken.
Doch ich mache mir Sorgen.
Der Sauerstoff reicht nicht für ewig.
Man muss es sich einteilen und zwischendurch mal tief durchatmen.
Es ist von Vorteil, wenn die Angst nicht überwiegt, denn sonst kann man dabei verrückt werden. 
Es heisst jetzt: 
Über sich selbst hinaus wachsen. Stärker werden. Sich neu sortieren.

Ja. Wir als Familie sich in den letzten Tagen tatsächlich zu einer kleinen eingeschworenen Schicksalsgemeinschaft geworden, die auf einer ungewissen Reise versucht, nicht auf Grund zu laufen. Doch es sind Chancen.

Es gibt einiges zu entdecken im Untergrund. 
Sie gehören zum wertvollen Fund. 

Leben unter dem Segen.

Sonne und Regen.
Schönheit in Freiheit. 
Raum und Zeit. 

Will man aber gemeinsam wieder heil herauskommen, braucht es vor allem die Fähigkeit, auszuhalten.
Die Enge.
Die Leere.
Die Ruhe.
Der Lärm.
Die Angst.
Die Kinder.
Die Ungewissheit.

Entrinnen ist keine Option. 

Das Leben in einer Kapsel geht ihren ganz eigentümlichen Gang.
Es folgt den eigenen Gesetzen. Und man muss vorsorgen: denn unter Wasser ist die Luft begrenzt.
Jeder braucht Luft und die Luft kann schnell knapp werden, hier, in einer Reise ins nirgendwo.
Wann die Zeit vorüber sein wird, weiss nur Gott allein.
Aushalten ist die Parole.
Doch leider haben wir diese Fähigkeit als Menschen in den letzten Jahrzehnten zunehmend verlernt.
Auskommen mit weniger Platz, Raum, Freiheit und Konsum. 
Das ist nicht einfach. 

Mir fällt es ungemein schwer, die Höflichkeit und den guten Ton im Miteinander zu wahren. 
Meine Nerven liegen manchmal blank.
Ich wünschte mir, mal rauskommen und was anderes sehen. 
Nicht nur der Balkon, der Garten ab und zu die Migros. 
Klar, man kann raus in den Wald, der jedoch zurzeit mehr bevölkert ist als die Zürcher Bahnhofstrasse. 
Ich will wieder mal meine Eltern umarmen, im Alpamare blantschen und durchs Gartenzenter ziehen. Will meine Freunde Zuhause einladen, grillieren und dazu ein süffiges Weinchen trinken. Will meine Kinder in die Jungschi schicken und meine Kleingruppe physisch treffen. Ich möchte endlich wieder die Stunden zurück, die ich frei einteilen konnte und die mich als Mutter durchatmen liessen. Ich will wieder Arbeiten können ohne Unterbrechung. Ich will zum Coiffeur und mich wieder hübsch fühlen. Ich will unsere Sommerferien planen und unseren 40.Geburtstag. Aber vor allem will ich mich zurück ziehen, einfach mal für mich sein. Will meinen Gedanken nach hangen, in Ruhe gelassen werden und mehr Platz zum Atmen bekommen.  
Je länger ich darüber nachdenken, umso mehr merke ich:

Ich brauche immer ein Morgen, damit ich mich sicher fühle.
Ich brauche immer genügend Platz für mich, damit ich mich wohl fühle.
Ich brauche Zeit für mich, damit ich atmen und zur Ruhe kommen kann.
"Bist du etwas davon abhängig, dass es dir gut geht?", fragt mich der dunkle Ozean. 
Ich blicke durchs rechte Bullauge in die Tiefe des Ozeans. 
Stimmt. Das sind meine persönlichen Naturgesetze. So funktioniere ich. So brauche ich es. 
Aber all diese Gesetze sind nun aufgehoben. Und während dem ich durch das Bullauge zwei Fischen beim Küssen entdecke, bricht ein Lachen aus mir hervor und es dämmert mir allmählich: 

"Es darf mir auch ohne den Normalzustand gut gehen".

Diese Zeit ist einzigartig.
Ich hatte noch nie soviel Familienzeit.
Ich nehme gerade gratis an einem Crashkurs in Kommunikation teil. 
Ich war noch nie so stolz auf meine Kinder.
Ich habe noch nie so viel über die digitale Welt und die Möglichkeiten gelernt. 
Ich habe mir noch nie so viel Zeit für die Fusspflege genommen.
Ich lebe nicht alleine, schätze die drei Lieblingsmenschen. 
Ich habe noch nie so viel entrümpelt. 
Ich habe noch nie so einen Frieden in mir gespürt.

Ich darf es mir in der Kapsel möglichst bequem einrichten und mich vertrauensvoll zurück lehnen: die Reise geht weiter, auch wenn der Zeitpunkt des Auftauchens ungewiss ist. 
Auch wenn ich nicht genug Platz habe, ist der Raum für Beziehung da. 
Auch wenn der Sauerstoff beschränkt ist, so reicht er doch zum Leben. 

Ich muss nur das zu schätzen wissen, was momentan da ist. 

Die ertappten zwei Fische erröten, blicken mich erschrocken mit ihren Glubschaugen an und tauchen dann rasch ins Dunkle ab.







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